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08.03.2023, 18:36 Uhr
Ein Blick zurück – die Kontroverse um Ines Geipel und die Verleihung des Erich-Loest-Preises
 
 

Von Philipp Lengsfeld

 

Vorletzte Woche erhielt Ines Geipel in Leipzig den Erich-Loest-Preis, den Literatur-Preis der Medienstiftung der Sparkasse Leipzig. 

 

Rund um die Preisverleihung kumulierte ein erbitterter Streit aus dem Umfeld des DOH, der Doping-Opfer-Hilfe, dessen Gesicht und Vorsitzende Ines Geipel wichtige Jahre lang war. Mit der Ausstrahlung des in typisch neudeutscher Weise unsäglich einseitig geframten Films MDR-Films „Doping und Dichtung“ am 31. Januar, nicht mal vier Wochen vor der Preisverleihung, hat die Sportredaktion des MDR aus Leipzig sich an die Spitze der Kritik an Ines Geipel und die Medienstiftung der Sparkasse Leipzig mächtig unter Druck gesetzt.

 

Ich möchte zu Beginn dieser Nachbetrachtung zunächst einen wichtigen Punkt machen: Nach allem was ich gesehen haben, ist der mediale Kampf zwischen den ehemaligen gemeinsamen Mitstreitern vom DOH von einer tiefgreifenden persönlichen Eskalation geprägt, die ich nur als absolut ungut charakterisieren kann. Es hat sich eine Spirale von Vorwürfen und Gegenvorwürfen entwickelt, die nur als völlig aus dem Ruder gelaufen beschrieben werden kann. Es wurden Gräben ausgehoben, Frontlinien gezogen und es wurde versucht jeden, der sich einbringen wollte -immerhin ist das Thema DDR-Aufarbeitung ja keine Privatveranstaltung von ehemaligen Aktiven des DOH- auf eine der beiden Seiten zu ziehen. 

 

Ich nehme mir das Recht heraus mich einzumischen ohne mich komplett auf eine der beiden Seiten zu schlagen. Erstens, weil -und das muss ich auch in aller Deutlichkeit sagen- keine der beiden Seiten sich auch nur annähernd so verhalten hat und teils auch noch so verhält, wie es für Profis angemessen und normal sein sollte. Und zweitens, weil ich in der Frage attempted character assassination (so muss man es wohl nennen) ganz klar an der Seite von Ines Geipel bin, während ich bei dem was ich als inhaltlich-sachlichen Kern sehe, eher zu der deutlich moderateren Position tendiere, die man vor allem auf der Seite der Geipel-Kritiker findet.

Und wie ich am Ende noch mal deutlich machen werde halte ich das für den Kern des Problems: Statt einer Sachdiskussion gibt es eine sich gegenseitig aufpeitschende Konfrontation mit moralisierenden, emotionalisierenden, immer kleinkarierter wirkenden gegenseitigen Vorhaltungen unter Einbeziehung von Journalisten und Wissenschaftlern, die selber meist auch attackieren und die dann von der jeweils anderen Seite oft ebenfalls mit Vorwürfen überhäuft werden.

Wie schon gesagt, in der Frage der Beurteilung der Persönlichkeit Ines Geipel liegen meine Sympathien klar auf der Seite der massiv Angegriffenen. Im Kern kann ich an den „Vorwürfen“ praktisch nichts finden (dazu gleich mehr).

Leider hat Ines Geipel aber auch einen nicht unerheblichen Anteil an der medialen Eskalation, die von denen, die sich ihr an die Seiten stellen auch noch massiv befeuert wurde (leider auch bei der Preisverleihung selber, auch dazu unten noch etwas). Durch dieses Verhalten, so nachvollziehbar vielleicht die erste persönlich gekränkte Reaktion auch sein mag, gibt Ines Geipel laufend Belege für den unterschwellig mitschwingenden Vorwurf der medialen Übertreibung und Eskalation. Ich bin nicht sicher, ob ihr der Mechanismus nicht bewusst ist oder ob er ihr egal ist oder ob sie die Western-artige Duellierung, bzw. mediale Schlammschlacht nicht als etwas sieht, was halt so ist, oder gar so sein muss. 

 

Ist es aber nicht – wir leben in einer Demokratie und nicht in der Herrschaft von moralisch Lauteren über moralischen Untouchables. 

 

Bei wirklich jeder Diskussion gibt es einen sachlichen Kern und über den hat auch jeder das Recht eine Einschätzung abzugeben und dem möchte ich mich in beiden Fragen nähern.

 

Punkt I: Die „Vorwürfe“ gegen die Person Ines Geipel

Im Kern kann ich die über den MDR übermittelten Vorwürfe nicht nachvollziehen.

Mit der eindeutigen Framing-Anklage „Dichtung“ wird der Werdegang von Ines Geipel massiv in Kritik gestellt. Es schwingt sogar ganz deutlich ein potentiell sehr schwerwiegender Vorwurf von möglicher Biographieverfälschung mit. 

Aber was ist die Realität, was sind die tatsächlichen Fakten?

Ines Geipel ist 1960 in der DDR geboren, wuchs dort auf und war Teil der DDR-Leistungssportmaschinerie. Bezweifelt das irgendjemand? Nein, denn das ist Fakt.

Ines Geipel war nahe an der Spitze, sie war in der Staffel Teil eines Klubweltrekordlaufs. Sie war in was aus meiner Sicht als erweiterte Kadersichtung für Olympia Los Angeles, 1984, charakterisiert werden kann - die olympischen Spiele, die letztlich vom Ostblock boykottiert wurden. Auch das sind Fakten.

Und Ines Geipel war als Spitzensportlerin Teil der DDR-Spitzensport-Staatsdoping-Maschinerie und zwar als Betroffene, als diejenige die gedopt wurde und nicht etwa als jemand, der dieses System etabliert und betrieben hat. Auch das ist ein Fakt. 

Alles von Geipel klar angesprochen. 

Auch, dass sie in ihren Jahren als Sprinterin volljährig war und Mitglied der SED geworden ist. Alles Fakten, die auch von Ines Geipel so dokumentiert wurden und klar zu Tage liegen.

 

Auch dass Ines Geipel als Spitzensportlerin genau beobachtet und überwacht wurde steht außer Frage, genau wie die Entfremdung und der letztlich offene Bruch mit der SED-DDR, ganz offenkundig bei der Flucht aus dem System über Ungarn verbunden mit dem Ausschluss aus der SED. Alles Fakten (selbst wenn diese Dinge für die Bewertung des Verhaltens und der Wirkung nach der Wende aus meiner Sicht absolut zweitrangig sind).

 

Ines Geipel hat sich in den Jahren nach der Wende dem Kampf gegen des System Staatsdoping verschrieben und hat zusammen mit dem DOH für die Betroffenen und Geschädigten politisch und medial sehr viel erreicht. Auch das steht außer Frage.

 

Was werfen die ehemaligen Mitstreiter Ines Geipel, die auch mit deren Unterstützung zur Vorsitzenden und dem Gesicht des DOH wurde eigentlich vor?

Ich verstehe es nicht wirklich, es geht um mediale Zuspitzung, vielleicht auch den medialen Erfolg, die allermeisten „Vorwürfe“ drehen sich um Aussagen von Journalisten in Talkshows, denen Ines Geipel angeblich nicht klar genug widersprochen hat oder wo sie nicht klar genug verhindert hat, dass gefühlte Wirklichkeiten und Übertreibungen entstehen. 

 

Ein für mich fast grotesker Vorwurf, der leider auch noch massiv personalisiert wird. 

 

Und natürlich auch vor allem unter Profis neben, bzw. hinter der Bühne diskutiert und ausgeräumt wird. 

 

Und wo jeder seine Rolle und damit seine Limits kennen sollte. 

 

Ein ehemaliger Trainer oder ein ehemaliger Leistungssportler wissen zwar viel über Sport, ihre oder andere Sportkörper, aber haben nicht die erforderliche Kompetenz oder gar Autorität über eine konkrete medizinische und sportmedizinische Frage bei einer Sportlerin zu richten. Allein dass man eine solche bare Selbstverständlichkeit aussprechen muss, zeigt an was für einem persönlich unfassbaren Punkt die Debatte angelangt ist.

Um diesen Teil abzuschließen: Ich halte die über den MDR transportierten persönlichen „Vorwürfe“ gegen Ines Geipel für eine im Kern substanzlose und glücklicherweise für mich auch gescheiterte attempted character assassination. Was immer als politisch guter Kern mit dabei gewesen sein könnte (dazu mehr unten), es ist für mich falsch angefangen, falsch durchgeführt und in seiner Wirkung ziemlich verheerend. Von der persönlichen Dimension gegenüber Ines Geipel mal ganz abgesehen.

 

Leider muss ich aber auch die mediale Reaktion von Ines Geipel und ihren Unterstützern kritisieren. 

 

Statt Versachlichung wird, ganz im Sinne der Mechanismen der Aufregungsrepublik, weiter an der medialen Eskalationsschraube gedreht. Und mit aus meiner Sicht unsäglichen Angriffen auf z.B. engagierte Wissenschaftler, wie Ilko-Sascha Kowalczuk auch Grenzen überschritten.

Wobei ich die Gegenschlagslogik, wie sie von Werner Schulz in seinem posthum veröffentlichten Gegenangriff auf Henner Misersky oder auch in der von mir als zu pauschal empfundenen Eröffnung von Durs Grünbein bei der Laudatio für Ines Geipel eh nicht verstehe und auch nicht akzeptiere: Sämtliche Fehler im Vortragen oder auch in der Verteidigung sagen eben nichts! über den sachlichen Kern eines Themas - diese einfache Wahrheit scheint die momentane deutsche Diskussionsgesellschaft ganz oft nicht zu begreifen. 

 

Es gibt keine gefühlte Wirklichkeit. Aber es gibt eine echte Wirklichkeit und da gibt es einen echten sachlichen Kern zu jedem Problem. 

 

Und aus einer Dopingbetroffenen wird nicht plötzlich ein Dopingverantwortlicher oder umgekehrt.

Diese ganzen unterkomplexen, aber übermoralisierenden Täter-Opfer-schwarz-weiß-gut-böse Schemata sind für mich das eigentliche Problem. Und natürlich die fast seuchenartig verbreitete elende Rechthaberei und die auch sehr weit verbreitete absolute Unfähigkeit, bzw. Unwilligkeit auch nur kleinste Fehler zuzugeben.

 

All dies lenkt völlig ab vom eigentlichen Kern des Problems, den es für mich schon gibt. Und über den ich auch einige Worte verlieren will.

 

Punkt II: Der politische Kern der Debatte

Für mich ist der Kern der Debatte ein Kampf um die Deutungshoheit von politisch-medialen Begrifflichkeiten, hier vor allem der Begriffe „Opfer“ und „Zwang“. 

 

Dabei ist die Sache für mich klar: Die Gabe illegaler leistungssteigernder, wettbewerbsverzerrender Mittel innerhalb eines knallharten Leistungssystems in einer Diktatur ist natürlich eindeutig zu verurteilen.

 

Jeder, der daran mitgemacht hat -und dies involvierte viel mehr Professionen und Einzelpersönlichkeiten als man im ersten Moment nachvollziehen kann- trägt dafür eine Mitverantwortung, die aber ganz unterschiedlich ausgeprägt ist. Sie ist natürlich desto höher, je wichtiger die Position der Person im SED-DDR-Sport-Doping-System war. Umgekehrt sind die Sportlerpersönlichkeiten, auch wenn sie volljährig waren und auch unabhängig von ihrem persönlichen Ehrgeiz, Talent oder gar ihre Team- oder Kollektivfähigkeit zunächst und vor allem Betroffene, bzw. Geschädigte.

 

Der Terminus „Täter“ und „Opfer“ ist dabei aus meiner Sicht nicht sonderlich hilfreich. 

 

Und eine Diskussion über „wissentlich“ oder „unwissentlich“ scheint mir politisch auch sehr fragwürdig.

 

Ich habe mich mit der genauen Passage im Gesetzestext noch nicht beschäftigt, aber Gesetzestexte stehen nicht außerhalb der Diskussion, sondern sind in einer Demokratie gerade bei Aufbruch in neue Bereiche, wie hier der Entschädigung von Staatsdopinggeschädigten der Ausgangspunkt einer weiteren Debatte.


Gesetze kann man verbessern, Anwendungspraxis optimieren, warum reden wir nicht darüber? 

Habe ich eine Erklärung, warum sich die Diskussion nicht um diese Sachfragen, sondern stattdessen um die Person und mediale Perzeption von Ines Geipel dreht?

 

Nicht wirklich, aber vielleicht doch: Es scheint vielen Deutschen momentan einfacher und zielführender mediale gut-böse-Schlachten weiterzutreiben, statt sich dem Kern von Sachfragen zu widmen. Ersteres scheint einfach, insbesondere wenn man sich auf der „richtigen“ Seite wähnt und letzteres ist anstrengend und erfordert hohe Kompromissfähigkeit und enormes Durchhaltevermögen. Und es gibt auch zu viele Spieler, die sich mit der letztlich undemokratischen Moralschlacht-Variante des Diskurses sehr gut eingerichtet haben, ihre Pfründe verteidigen und Konflikte lieber anheizen als zu befrieden.

 

Leider befeuern diese Art von „Diskussionen“, diese medialen Moralschlammschlachten, das zeigt das Geipel-DOH-Beispiel finde ich sehr gut, aber gerade die Probleme, die sie beklagen (was dem Teil der Beteiligten, die es nicht in böser Absicht machen -solche Kräfte gibt es aber leider auch- nicht bewusst zu sein scheint).

 

Ich bin deshalb froh, dass die Medienstiftung der Sparkasse Leipzig letztlich nicht die Nerven verloren hat. 

 

Ines Geipel erhielt auf Grund eines Juryvotums einen Literaturpreis für ihr umfangreiches und wirkungsstarkes literarisch-publizistisches Werk zugesprochen. Ich persönlich hätte eine Revision dieser Entscheidung im Gefolge der MDR-Dokumentation nicht richtig gefunden, denn die Juryentscheidung bezieht sich auf das Werk von Ines Geipel und wird daran gemessen. Zum Glück haben dies die Stiftungsverantwortlichen klar erkannt und auch benannt. Ein in diesem Land zu oft betriebenens Verdachts-Vorbeuge-es-gab-große-Diskussionen-Cancel darf nicht weiter Vorschub geleistet werden. Es ist die Pflicht von Leute, die Vorwürfe erheben, diese zu belegen und jegliche darauf basierenden Forderungen (die gab es hier mEn gar nicht) klar zu begründen. Es ist nicht Sache der Angegriffenen zu beweisen, dass die Angreifer Unrecht haben, sondern die Angreifer sind in der Beweispflicht. Das gilt natürlich auch für Gegenangriffe, die ich ja, wie erwähnt, eh für nicht gut und auch nicht für gerechtfertigt halte.

 

Wie geht es von hier weiter?

 

Ich kann nur hoffen, dass die beteiligten Journalisten und Wissenschaftler nicht an einer Fortsetzung von destruktiven und unprofessionellen Grabenkriegen weiterwirken. Ich kann den Beteiligten aus dem Umfeld des DOH nur wünschen, dass sie aus der Sackgasse der gegenseitigen persönlichen Vorwürfe, die aus meiner Sicht nichts in der Öffentlichkeit zu suchen haben herausfinden und zur Sachthematik zurückfinden. 

 

Und ich kann dem DOH selber und allen anderen Kräften, die sich um das wichtige Thema Sportdoping kümmern nur wünschen, dass aus der Dynamik der Eskalation und Emotionalisierung die richtigen Schlüsse für die politisch-mediale Arbeit nach vorne gezogen werden.


Als ersten Hoffnungsschimmer sehe ich, dass die Seiten der DOH, die im Deutschen den unguten „Opfer“-Begriff im Namen tragen, in der englischen Variante viel treffender und zielführender schlicht „no doping“ heißen.

 

Und es scheint in der SPD Bundestagsfraktion eine Sachdebatte um Phase II der Hilfen für DDR-Dopinggeschädigte angefangen zu haben, was ich sehr begrüße.

 

Philipp Lengsfeld, CDU-MdB, 18. WP, 2013-2017 hatte im Bundestag als zweiten inhaltlichen Schwerpunkt das Thema Erinnerungspolitik im Ausschuss für Kultur und Medien und war einer der Berichterstatter für dieses Thema für die CDU/CSU-Fraktion.

 

Quellen:

Die Seiten der Medienstiftung der Sparkassen Leipzig:

Startseite - Medienstiftung der Sparkasse Leipzig (leipziger-medienstiftung.de)

 

Hier sind auch einige Medienberichte dokumentiert, nach meinem Eindruck vor allem die, die Ines Geipel verteidigen.

 

Die Seiten von Ines Geipel geben eine Möglichkeit sich ihrem umfangreichen Werk zu nähern.

Ines Geipel - Schriftstellerin und Publizistin

 

Dokumentation der Erich-Loest-Preisverleihung 2023 mit der Laudatio von Durs Grünbein und der Dankesrede von Ines Geipel

https://youtu.be/g242VyPfIpk

 

Der MDR-Film „Doping und Dichtung“, der wenige Wochen vor dem geplanten Verleihungstermin vom MDR ausgestrahlt wurde

https://www.ardmediathek.de/video/mdr-dok/doping-und-dichtung-das-schwierige-erbe-des-ddr-sports/mdr-fernsehen/Y3JpZDovL21kci5kZS9iZWl0cmFnL2Ntcy9kYzBjNzI0YS00YTA3LTQyYmItYWZlMi04MjcwMTBkNzZkZjU

 

Auch zur Begleitung, bzw. Unterstützung dieses MDR-Beitrags gibt es weitere mediale Äußerungen, die hier nicht alle dokumentiert sind. Pars pro toto der Beitrag von Jens Weinreich in der Berliner Zeitung – hier finden sich auch zahlreiche Verweise auf weitere Artikel.

 

Debatte um DDR-Leichtathletin Ines Geipel: Propaganda vom Feinsten (berliner-zeitung.de)

 

Die Seiten des DOH

doping-opfer-hilfe e.V. – Forum für selbstbestimmten Sport (no-doping.org)

 

Neue Debatte in SPD-Bundestagsfraktion über weiteren Umgang mit DDR-Doping-Geschädigten

SPD will Rente für DDR-Doping-Geschädigte durch Bundestag bringen (faz.net)

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